„Hungernde Schulkinder, vernachlässigte Alte und diskriminierte Ostdeutsche: Ein Uno-Bericht zeichnet ein trostloses Bild der Bundesrepublik. Die Regierung ist nun verärgert. Zu Recht? Ein genauer Blick auf das Zustandekommen des Reports lässt tatsächlich an einigen Befunden Zweifel aufkommen.“
Um es mal etwas abgekürzt vorwegzunehmen – Attac, der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener und der Verein Intersexuelle Menschen durften in Berichten und Fragestunden ihre Sicht der Dinge schildern. Mit Hilfe dieser Informationen verfasste der Ausschuss dann seinen Bericht. Die restlichen „Fakten“ wurden aus alten Studien und Zeitungsausschnitten (!) zusammengeklaubt. Verantwortlich für den Bericht ist Christiane Lüst, Sozialpädagogin und Betreiberin des Umweltzentrums Öko & Fair in Gauting, GEN-Klage-Aktivistin, Mitglied bei der Menschenrechtsorganisation Fian und ÖDP-Kandidatin für den bayerischen Landtag 2008, eine Frau die sich für gewöhnlich vor allem auf Kreisebene dem Kampf gegen Mobilfunkgrenzwerte, Gentechnik und Straßenverkehr sowie der Beratung von Eltern Homosexueller verschrieben hat. Nun der ganz große Wurf: Die UNO veröffentlicht eine Studie über die Situation in Deutschland, die maßgeblich auf dem Bericht des illustren Ausschusses beruht, ohne Daten und Fakten vom Statistischen Bundesamt oder anderen Behörden zu verwenden. Die deutschen „Qualtätsmedien“ jazzen das Ganze in gewohnt masochistischer Manier hoch und alle anderen Berufsempörten haben es ja schon immer gewußt. – Es bleiben aber offene Fragen: Ist die soziale Lage in der restlichen Welt inzwischen so erfreulich, dass die UNO das kritische Augenmerk auf Deutschland legt? Ist von anderen UNO-Studien genausoviel faktische Treue anzunehmen? Und wann löst Frau Lüst aus Penzberg endlich Ban Ki Moon ab, um Somalia, Äthiopien oder Afghanistan vor Mobilfunk, Gentomaten und Straßenverkehr zu schützen.
Andree G.
Der Text auf SPON:
Hamburg – Für Sozialverbände, Gewerkschaften und die Linke kam der Uno-Bericht zur sozialen Lage in Deutschland wie gerufen. Eine solche Steilvorlage für Kritik an der Sozialpolitik der Bundesregierung, noch dazu von den Vereinten Nationen, haben sie vermutlich noch nie erhalten.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund warf der Bundesregierung am Donnerstag „Ignoranz vor der dramatischen Lage vieler Menschen vor“. Der Sozialverband Deutschland sprach von einem „Alarmruf der Völkergemeinschaft zur rechten Zeit“, und Linke-Chef Klaus Ernst rechnete gleich mit der Politik der vergangenen 20 Jahre ab: Der Uno-Bericht, so Ernst, sei ein „beschämendes Dokument des Scheiterns aller Regierungen seit der Wiedervereinigung“. Doch der kollektive Aufschrei kam möglicherweise zu früh. Denn ein genauerer Blick auf das Zustandekommen des Berichts lässt tatsächlich Zweifel an der Aussagekraft mancher Befunde aufkommen.
Den neunseitigen Länderbericht über Deutschland hat der Uno-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte verfasst. Das vorläufige Papier – die endgültige Fassung des Berichts steht noch aus – stellt der Bundesrepublik ein vernichtendes Urteil in der Sozial- und Gesellschaftspolitik aus. Unter anderem heißt es darin, dass
- 1,3 Millionen Menschen nicht von ihrer Arbeit leben könnten und 13 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben würden,
- die Arbeitslosenquote in Ostdeutschland immer noch doppelt so hoch sei wie die im Westen,
- 25 Prozent der Schüler ohne Frühstück zum Unterricht gingen und von Mangel- und Unterernährung bedroht seien, weil nicht in sämtlichen Schulen Mittagessen bereitgestellt werde.
Die Bundesregierung reagierte mit Unverständnis auf den Bericht . Er sei „in weiten Teilen nicht nachvollziehbar und auch nicht durch wissenschaftliche Fakten belegt“, heißt es im Sozialministerium. Es gebe „kein einheitliches Raster, keine Uno-weiten einheitlichen Standards, keine allgemein definierten Maßstäbe, an denen Deutschland gemessen“ werde.
Eine Anfrage von SPIEGEL ONLINE an den Uno-Ausschuss blieb unbeantwortet. Doch wer den Bericht studiert, kommt ins Grübeln.
„Querschnitt aus verschiedenen Studien und Artikeln“
Zweimal jährlich – im Frühjahr und Herbst – tagen in Genf für mehrere Wochen 18 Mitglieder des Uno-Ausschusses. Deutschland muss alle fünf Jahre Bericht erstatten. Im Mai war es wieder so weit. Die Bundesregierung legte dem Gremium ihre Sicht zur Sozialpolitik dar und beantwortete Fragen. Auch Nichtregierungsorganisationen wie Attac, der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener und der Verein Intersexuelle Menschen durften in Berichten und Fragestunden ihre Sicht der Dinge schildern. Mit Hilfe dieser Informationen verfasste der Ausschuss dann seinen Bericht.
Darin heißt es unter anderem: „Der Ausschuss beobachtet mit Sorge, dass 25 Prozent der Kinder ohne Frühstück zur Schule gehen und dabei die Gefahr der Unterernährung besteht, weil nicht in allen Schulen die Möglichkeit für ein Mittagessen besteht.“ Belege und Quellen dafür liefert der Report nicht.
Auffällig ist aber: Die Vorwürfe weisen Parallelen zum Bericht von Attac und dem „Forum-Pflege-aktuell“ auf, den die beiden Organisationen gemeinsam an den Ausschuss lieferten. „In der Bundesrepublik kommt die Hälfte der Kinder an Grundschulen und weiterführenden Schulen häufig ohne Frühstück zum Unterricht und bekommt auch in der Schule nichts“, beklagen sie. Und weiter: „Kinder leiden oft an Unterernährung, weil nicht dafür gesorgt wird, dass sie ein Mittagessen bekommen.“
Und wie kamen nun Attac und Co. an diese Daten? Die Informationen und Zahlen basierten auf einem „Querschnitt aus verschiedenen Studien und Artikeln“, sagt Christiane Lüst, die den Bericht mitverfasste. Sie und ihre Kollegen haben ihre Angaben aus einer Studie aus dem Jahr 2003 sowie aus Online- und Zeitungsartikeln aus den Jahren 2006 bis 2010 zusammengebastelt.
Eine Münchner Hauptschule soll als Beispiel für Deutschland dienen
Als Beleg wird zum Beispiel ein Artikel aus dem Jahr 2008 über eine Münchner Hauptschule genannt. Als der Rektor dort in einer Klasse fragte, wer zu Hause ein Frühstück bekomme, bekam er von der Hälfte der Schüler ein Nein. Aus solchen Berichten könne man ein „Mittelmaß“ ziehen, sagt Lüst. Die Angaben im Bericht seien „als grober Rahmen“ für den Uno-Ausschuss gedacht. Statistiker raufen sich da die Haare.
Während die Bundesregierung beklagt, der Uno-Ausschuss habe ihre Positionen zu wenig berücksichtigt, ist NGO-Vertreterin Lüst zufrieden: „Die Ausschussmitglieder sehen die Regierungen mit einem gesunden Maß an Kritik“, sagt sie. Der Bericht sei „schon mehr aus Sicht der NGO“ geschrieben. Auf deren Angaben seien die Uno-Leute angewiesen – schließlich müssten sie Berichte über mehrere Länder verfassen. „Ich denke, es ist nicht üblich, dass die sich noch eigenes Datenmaterial ranholen“, sagt Lüst. „Die Ausschussmitglieder sind ja keine Insider.“